Weniger als 24 Stunden nach der Ankunft Max Göldis in Zürich rollte ein SF-Dokfilm die Libyen-Affäre auf. Die überraschende Erkenntnis: Nicht Hans-Rudolf Merz, sondern Micheline Calmy-Rey habe in erster Linie versagt.
Der Film beginnt, bevor die Affäre ihren Lauf nahm. Im Juli 2008 steigen im Genfer Hotel «President Wilson», dem «teuersten Hotel der Schweiz», Hannibal Gaddhafi und seine hochschwangere Frau ab. Sie wollten in Genf gebären, stattdessen landete der Diktatorensohn wegen der Misshandlung von Angestellten zwei Tage lang in Gewahrsam – die Lybien-Krise konnte beginnen.

Dokfilmer Hansjürg Zumstein hat die Ereignisse seit jenem Vorfall bis zur Freilassung Göldis vor wenigen Tagen chronologisch aufgearbeitet. Dabei stützt er sich in erster Linie auf die Ausführungen von Unternehmer Miguel Stucky, dem Chef des einen Entführungsopfers Rachid Hamdani. Und dieser redet Klartext: «Ich war verblüfft, dass in der Schweiz zu Beginn der Affäre niemand begriffen hatte, dass es sich um eine Geiselnahme handelt. Erst nach einem Jahr begann die Presse davon zu sprechen.» Der Bundesrat habe den Ernst der Lage lange nicht erkannt. Eine fatale Fehleinschätzung, es wird nicht die einzige bleiben.

Calmy-Reys Fehler

Schlecht weg kommt dabei vor allem das Aussendepartement unter Micheline Calmy-Rey. Die Liste ihrer Fehlleistungen ist lang:

Am 2. Oktober 2008 wurde ein Telefonat des damaligen Bundespräsidenten Pascal Couchepin mit Muammar al-Ghadhafi in die Wege geleitet. Alles war für das Gespräch von Präsident zu Präsident organisiert gewesen, Ghadhafi hatte schon zugesagt. Im letzten Moment wurde das Gespräch annuliert, stattdessen sprach Calmy-Rey mit dem libyschen Premierminister. «Das ist sehr schlecht rausgekommen», sagt Stucky, Libyen habe der Schweiz die Annulation übel genommen.
Am 23. März 2009 kommt es an der Pressekonferenz mit dem Genfer Polizeidirektor Laurent Moutinot zum Eklat. Als er sagte «Wenn Ghadhafi nicht Ghadhafi geheissen hätte, wäre er 14 Tage im Gefängnis geblieben und nicht nur zwei», muss sie laut lachen und giesst damit noch mehr Öl ins Feuer.

Am 21. August informiert Hans-Rudolf Merz über seine Libyen-Reise, während der Pressekonferenz erhalten Journalisten ein SMS vom Informationschef Calmy-Reys, indem der Aussage Merz' widersprochen wird. «Verfasst hat er das SMS im Auftrag von ihr», heisst es im Film.
Die Aufhebung des Visa-Boykotts auf Druck der EU wird als Niederlage der Aussenministerin dargestellt.

Selbst Calmy-Reys letzte Reise nach Tripolis vor ein paar Tagen, als sie Göldi heimholte, war laut Stucky «überflüssig».

Hans-Rudolf Merz, der wegen der Affäre ins Kreuzfeuer der Kritik geriet, findet hingegen viel Wohlwollen. Anders als Calmy-Rey darf er sich lange erklären («auch andere Staaten wie die USA, Grossbritannien etc. mussten sich schon bei Libyen entschuldigen, da sind wir überhaupt kein Sonderfall»), und der grüne Nationalrat Geri Müller, damals Präsident der aussenpolitischen Kommission, nimmt Merz in Schutz, so wie er es schon während der ganzen Affäre immer getan hatte. Miguel Stucky meint, er habe die Kritik an Merz nicht verstehen können, seine Libyen-Reise sei gut gewesen und habe den Beginn der Freilassung der Geiseln bedeutet.

Also die grosse Rehabilitation für den vielgescholtenen Merz? Einerseits ja, das Handeln des Appenzellers wird durch den Film nachvollziehbarer. Allerdings enthält der Film einen entscheidenden Schönheitsfehler: Merz-Kritiker kommen nicht zu Wort, auch Micheline Calmy-Rey oder jemand aus ihrem Departement darf sich nicht erklären.

Krimi mit offenen Fragen

Der Film mutet über weite Strecken an wie ein Krimi. Wegen der strengen chronologischen Erzählweise fehlt es ihm zuweilen aber an Tiefe. Wie war das nun genau mit diesem ominösen SMS? Handelte es sich bei der Veröffentlichung der Hannibal-Fotos durch die «Tribune de Genève» ausgerechnet am Tag der geplanten Heimreise der Geiseln tatsächlich um einen Sabotageakt der Genfer Justiz, wie der Film suggeriert? Viele Themen, die einer näheren Betrachtung bedurft hätten, werden nur gestreift, dafür wird auch viel Altbekanntes wiederholt.

Löblich zu erwähnen ist, wie gut die SF-Dokfilmredaktion mit dem Film auf die Freilassung vorbereitet war und wie rasch der Film fertiggestellt und noch ins Programm genommen werden konnte. Angesichts des grossen Aufwands ist es bedauerlich, dass er erst gegen Mitternacht und nicht zur Hauptsendezeit ausgestrahlt wurde.

Rico Bandle